DER WACHHIRSCH

FASCHINGSSONDERAUSGABE
2001 / 2002

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FÜR DIE
MITGLIEDERJAHRESAUSSTELLUNG DES
WÜRTTEMBERGISCHEN HIRSCHVEREINS
05.12.2001 - 13.01.2002


Ausschreibung

Selbstverständlich erfreute mich die Aufforderung der Jury des Württembergischen Hirschvereins vom Juli 2001 zur Jahresausstellung der Hirschmitglieder 2001 mein "bestes" Werk einzureichen, jenes, das mir am "wertvollsten" ist – wertvoll in dem Sinne, dass es mich, meine ureigenste Haltung, meine spezifische Sicht auf die Dinge ( auf welche auch immer ) so authentisch zum Ausdruck bringt, wie sonst kein anderes.

So konnte ich diese altehrwürdige Institution betreffende Arbeiten, deren Wurzeln bis in die späten 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichen ("Goldener Hirsch/Gänseei", 1987, Performance, Theater "Alter Landtag" ),wieder aufnehmen und fortführen und die Jury würde sich für meine unverstellte Sicht auf die Wirklichkeit interessieren, hoffte sie doch, dadurch zu einer authentischen Ausstellung zu kommen, deren Relevanz über die bloße Präsentation der Vereinsmitglieder hinausginge.
„Verhältnis 1“,  Fotografie einer Zeichnung mit Heißkleber auf Landtagsgebäudeglas, 1993„Verhältnis 2“,  Fotografie einer Zeichnung mit Heißkleber auf Landtagsgebäudeglas, 1993
"Verhältnis 1" | "Verhältnis 2"
jeweils Fotografie einer Zeichnung mit Heißkleber auf Landtagsgebäudeglas, 1993


Einreichung
Frohgemut und termingerecht, in mir eine tiefe Dankbarkeit der Jury gegenüber tragend, transportierte ich am 11.9.2001 mein Gestaltungsvorschlagspäckchen in das Hirschgebäude und erinnerte mich an Sepp Herberger und seine Feststellungen, welche den Ball, das Spiel und die Zeit definiert hatten.
Einladung

Die Nachricht des Direktors des WHV, Dr. Andreas Hirschensen vom 8. Oktober 2001, dass einstimmig beschlossen wurde, mein Arbeitsvorhaben, den "Goldhirsch temporär zu deplatzieren", in die Ausstellung aufzunehmen, verbunden mit einer Einladung in den Glastrakt des WHV auf den 22. Oktober 2001, 10.00 Uhr, um die an der Ausstellung beteiligten HirschInnen kennenzulernen und um organisatorische Fragen abzuklären, hatte ich aufgrund einer regen Kommunikation, die zwischenzeitlich stattfand, erwartet.

Ausladung
Nicht erwartet, aber ebenso erhalten – mit Datum vom 9. Oktober 2001 – habe ich die Mitteilung des Direktors des WHV, Dr. Andreas Hirschensen, dass mein eingereichter Vorschlag nicht ausgewählt wurde, verbunden mit Bedauern, etc.... und herzlichem Dank.
Besprechung
Es erschien mir eine besondere Ehre, dass, welche Hirsche auch immer, mir in dieser Lotterie den Großen Hirsch der freien Auswahl geschenkt hatten ( s.o. ) und begab mich zur Besprechung am 22. Oktober. Besonders aktiv konnte ich an dieser nicht teilnehmen, war doch schon alles, meinen Beitrag betreffend, definiert.
Eine in den Raum geworfene Hypothese, dass eine Anzahl von 28 HirschInnen – statt 29 – an dem Ausstellungsvorhaben aus mathematischen Gründen, was die Plakatgestaltung anbelangen würde, vorzuziehen sei, wollte ich nicht kommentieren.
Der 5. November wurde für die Beibringung von Material zur Plakatgestaltung vereinbart.
Nachmittags rief mich Dr. Hirschensen an, besorgt, weil ich das Treffen so zeitig verlassen hatte und um sich über den weiteren Verlauf meines Arbeitsvorhabens zu erkundigen. Mehr, als dass eine Arbeit erst mit der letzten Aufführung beendet sei, konnte ich auch seinem Assistenten Dr. Jens Hirschig – ebenfalls telefonisch, etwas später, nicht vermitteln, stellte aber in Aussicht, sie auf dem Hirschende(n) zu halten.
Umsetzung
Mit der folgenden Projektdarstellung, bebildert und mit erläuternden Anlagen versehen, bat ich die an den am Projekt Einzubeziehenden in persönlichen Anschreiben um deren Mithilfe:
> Für die Dauer der Jahresausstellung der Künstlermitglieder vom 8. Dezember 2001 bis zum 13. Januar 2002 und zur Eröffnung derselben am Freitag, den 7. Dezember 2001, 19:00 h soll der vergoldete Hirsch, welcher – sturmsicher verankert und Wind und Wetter trotzend – schon lange einsam das Kuppeldach des Hirschgebäudes der Landeshauptstadt Stuttgart krönt, einmal Weihnachten und Neujahr im Warmen und in Geselligkeit verbringen.
„Versuch sich der Mentalität eines Hirsches anzunähern“, Fotografie, 2001
"Versuch sich der Mentalität eines Hirsches anzunähern"
Fotografie, 2001
Außer dem guten Willen ist hierzu die Genehmigung des Eigentümers, der Oberfinanzdirektion Stuttgart, erforderlich, welche vom Staatlichen Vermögens- und Hochbauamt, beantragt wird.
Über die Genehmigung und ihre Verbindung mit Auflagen aus denkmalpflegerischer Sicht entscheidet die Untere Denkmalschutzbehörde, die zuvor das Landesdenkmalamt um eine Stellungnahme zu ersuchen hat, wobei die Untere Denkmalschutzbehörde nur im Einvernehmen mit dem Landesdenkmalamt entscheiden kann.
Nach Erteilung dieser Genehmigungen kann der vergoldete Hirsch dann auf die Reise vom Kuppeldach ins Erdgeschoss des Hirschgebäudes gebracht werden, wozu ein oder zwei fahrbare Kräne und sachkundige Spezialisten – vorzugsweise der Firma Paule Hermann GmbH & Co KG, Schwertransporte, Kranarbeiten, welche auch den Rücktransport besorgen müsste – benötigt werden. Die "Hinreise" wäre von Montag, 3. Dezember bis Donnerstag, 6. Dezember möglich und die "Rückreise" fände dann nach Beendigung der Ausstellung nach dem 13. Januar 2002 statt.
Neben dem visuellen Ereignis – einer friedlichen und nur temporären Veränderung des Schlossplatzes, wobei es sicher auch für viele interessant ist, der mächtigen Hirschskulptur einmal aus der Nähe und in Augenhöhe begegnen zu können, und ich mir deshalb zusätzlich etliche neue Besucher für das Hirschgebäude erhoffe – ist das konzertante Zusammenspiel aller oben genannten Beteiligten ebenso von hirscherischer Bedeutung im Sinne einer sozialen Plastik als Weihnachtsgeschenk für die Stuttgarter und für die Besucher der Landeshauptstadt Stuttgart. <
Alle Angesprochenen zeigten sich sehr hilfsbereit, sowohl die VertreterInnen der beteiligten Behörden, als auch Herr Paule mit seiner neuerlichen Zusage, sich mit seiner Technik und seinen Mitarbeitern mäzenatisch zu beteiligen. Es schien so, als ob über eine Verwirklichung des Arbeitsvorhabens hinaus die tatsächliche temporäre Deplatzierung der goldglänzenden Materie möglich sei. Es hirschte noch Schonzeit.
Entscheidung

Am 4. November teilte mir das Staatliche Vermögens- und Hochbauamt mit Bedauern, meinem Wunsch nicht nachkommen zu können, mit, dass der vergoldete Hirsch fester Bestandteil der Kuppel wäre.

Ein Abnehmen, ohne dass Beschädigungen am Gebäude und am Hirsch entstehen, wäre nicht möglich, weshalb bereits die Restaurierung des Hirsches vor rund 10 Jahren sehr kostenintensiv an Ort und Stelle ausgeführt worden war.
Diese Zwischenergebnis meines Arbeitsvorhabens teilte ich Herrn Dr. Hirschensen mit, verbunden mit der Zusage, ihn über meine weiteren Schritte zu informieren. Eine Ersatzlösung, wie z.B. der Einsatz eines Duplikates kam selbstverständlich nicht in Betracht, hätte auch in der freien Wildbahn nicht funktioniert ( schon überhaupt nicht in der Brunftzeit ) und auch nicht der Idee des Projektes entsprochen.
Aufbau

Deshalb reifte in mir der Gedanke – insbesondere deshalb, weil ich die Hilfsbereitschaft der im Kapitel "Umsetzung" Genannten durch eine Veröffentlichung würdigen und mich bedanken wollte – das Arbeitsvorhaben, den "Goldhirsch temporär zu deplatzieren" in Form eines bebilderten Heftchens in die Ausstellung zu geben.

Der allseits bekannte "HIRSCHTURM" schien mir dazu ein würdiges formales Vorbild zu sein. Die Produktion dieses Heftchens konnte ich selbst verwirklichen, die Verteilung selbst in die Hand nehmen und dies in Anlehnung an den Ausschreibungstext: "Der Raumbezug, die Vorstellung von der Kuppel als Inbegriff der Einheit einerseits und als Torte, von der sich jeder ein Stück abschneidet, andererseits, führt zu einer sozialen Situation aus Gemeinsamkeit und Selbstverwirklichung, die es in anderen Räumen so nicht gibt." ...und mitröhren.
„Gemeinsamkeit“, Installation, 2001
"Gemeinsamkeit"
Installation, 2001
Zu diesem Behufe hatte ich mich mit Hilfe zweier freier Unternehmensberaterinnen ( Mascha und Natascha ) gründlich auf die Arbeit vorbereitet und auch mental eingestimmt.

 Änderung

 Am 30. November erhielt ich per Post die Einladungskarte für die Jahresausstellung der Hirschmitglieder, deren zeitgenössisches Design mich tief ergriff. Insbesondere die bescheidene, sich nicht in den Vordergrund drängende Schriftgröße der TeilnehmerInnennamen brachte mich fast zum Weinen vor Ergriffenheit, sodass ich das Fehlen meines Namens erst beim Prüfen der Druckqualität – welche einwandfrei war, wie sich erwartungsgemäß herausstellte – unter Zuhilfenahme einer Lupe feststellen durfte / konnte / musste / hirschte. Welten brachen zusammen, meine Hirschkarriere war am Boden zerstört !

„Filetierter Salzhirsch“, Kleinplastik, 2001
"Filetierter Salzhirsch"
Kleinplastik, 2001
War ich das Opfer eines Unfalls geworden ?
„Mascha, r. und Natascha, l“, Fotografie, 2001
"Mascha, r. und Natascha, l"
Fotografie, 2001


Oder gar das einer Verschwörung ? Griffen da Terroristen zu ganz subtilen, durchaus feinsinnigen Mitteln ? Oder handelte es sich nur um die Folge einer Unsensibilität gegenüber zeitgenössischem, nicht einmal avantgardistischem Röhren ?Möglicherweise war es ein Versehen !Ich spielte mit dem Gedanken, meine Mitgliedschaft im WHV aus besonderem Anlass mit sofortiger Wirkung frist- und erbarmungslos aufzukündigen – nach über 25-jähriger treuer Mitgliedschaft, nur unterbrochen von der Zeit vom 31.12.1996, 24 Uhr bis 1.1.1997, 0 Uhr als Beitrag zur damaligen Jahresausstellung.
„Hirschkostüm, Wanderpokal, 1.Preis des Wettbewerbs für europäische NachwuchskuratorInnendes Stuttgarter Kunstverein e.V., Bleistift auf Hirschleder, 2001

"Hirschkostüm, Wanderpokal, 1. Preis des Wettbewerbs für europäische NachwuchskuratorInnen des Stuttgarter Kunstverein e.V.", Bleistift auf Hirschleder, 2001

Veränderung

Diesmal holte ich mir nicht nur Unterhaltung und Stärkung bei Mascha und Natascha, sondern auch Trost und Rat: Nein!, eine Aufkündigung der Mitgliedschaft käme nicht in Frage. Als ebenso geschulte und erfahrene Hirschpsychologinnen argumentierten sie mit der Tatsache, dass Hirsche sehr wohl ohne Hirschvereine und deren NachwuchskuratorInnen leben könnten. Aber umgekehrt hätten eben diese und auch die HirschhistorikerInnen ohne Hirsche keine Arbeit. Nicht nur diese würden der Verelendung anheimfallen, sondern weitere am Betriebssystem "Hirsch" Beteiligte würden in Folge dessen sogartig mit untergehen und die gesammte Gesellschaftsordnung wäre somit in Gefahr ! Würde ich tatsächlich kündigen, könnte ein Erdrutsch in Kraft treten ! Man würde mich ohne weiteren Beweis der Schuld als Terrorist bezeichnen, jagen und töten ! Und die Welt wäre nicht mehr das, was sie vorher war !

Ohne mich !


Eine unten skizzierte Leere !

„Leere, nicht einmal Schall und Rauch“, Nichts auf Papier, 2001
"Leere, nicht einmal Schall und Rauch"
Nichts auf Papier, 2001
Dies ist keine Veröffentlichung im Sinne des Hirschrechtes.
Nachdruck – auch auszugsweise – erbeten.
Vorzugsausgaben erhältlich.
Hanns-Michael Rupprechter | Stuttgarter Kunstverein | Alpha-jetzt
Hanns-Michael Rupprechter
7.12.2001